Mit Herz, Stimme und Ohren
Amir, Viktoria, Viola und Prajan haben große Lust, mit Nicole Weyer im Nebenzimmer zu lesen und zu erzählen. "Darf ich das kleine ‚Wir‘ haben?", fragt Viktoria und nimmt das kleine grüne Stoffwesen glücklich in die Arme. Im "Lesezimmer" ist es so gemütlich, wie es in einem provisorischen Container sein kann. Darin ist die Kita wegen eines Neubaus derzeit untergebracht. Die Kinder kuscheln sich am Fenster auf einer kleinen Matratze zusammen, Weyer setzt sich auf den Teppich. "Sollen wir uns zuerst mal begrüßen und uns unsere Namen sagen?", schlägt die Diplom-Pädagogin vor. Viktoria ergreift sofort die Initiative. Nicht ihr, sondern dem kleinen "Wir" in ihren Händen sagen alle nacheinander "Hallo" und ihren Namen. Dann kann es losgehen. "Jetzt brauchen wir nur unser Herz, unsere Stimme und unsere Ohren", leitet Weyer die erste Seite im Buch ein. Die Kinder sind in Redelaune. Gar nicht so einfach, ein Buch zu lesen, wenn vier kleine Köpfe lauter unterschiedliche Gedanken dazu haben und diese auch äußern wollen. Ein Redestein, den der festhält, der gerade spricht, lässt jedem die gebotene Aufmerksamkeit zukommen - zumindest in der Theorie. Zum Abschluss dürfen sich alle Kinder noch einen Buchstaben aus der Buchstabenkiste nehmen.
Sprachbildung ist der Schwerpunkt der Arbeit von der Arbeit von Nicole Weyer, die in der Kita und dem Familienzentrum Saltkrokan als sogenannte plusKITA-Fachkraft angestellt ist. Die zweigruppige Einrichtung in Trägerschaft der Caritas-SkF-Essen gGmbH steht im Hörsterfeld, inmitten einer Hochhaussiedlung, in der viele Familien leben, die einen Migrationshintergrund haben oder von Armut betroffen sind. "Das kleine ,plus‘ steht für die zusätzlichen Dinge, die wir im Team leisten: Sprachbildung, Familienbegleitung und Quartiersarbeit", erklärt Weyer. Kita-Leiterin Manuela Jaiteh (44) ergänzt: "Wir arbeiten vernetzt mit Kooperationspartnern hier im Stadtteil und darüber hinaus." Es gehe darum, soziale Kontakte, das Miteinander zu fördern und die Familien bestmöglich zu begleiten - auch diejenigen, die kein Kind in der Kita haben, aber dennoch Unterstützung suchen. Mit der katholischen Erwachsenen- und Familienbildung im Bistum Essen veranstaltet die Kita Elternabende zu Erziehungsthemen und kooperiert bei familiären Problemen mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst. "Unsere Türen stehen immer offen", bekräftigt Weyer.
Zum Beispiel für die Mütter, die sich heute Morgen zum Elterncafé treffen, um Lichter für den Adventsmarkt zu basteln. Bei Kaffee und Tee wird allen schnell warm, und die Erinnerung an den Adventsmarkt im vergangenen Jahr steigert die Motivation. "Das war so schön! Alle haben etwas für das Buffet mitgebracht, die Kinder haben Hexenhäuschen aus Butterkeksen gebaut und Sterne gebastelt", erzählt Hajar Semmo. Von dem Erlös hat sich jede Gruppe eine Toni-Box, die Lieder und Geschichten abspielt, kaufen können.
Hajar Semmo (30) und ihre Cousine Dunja Semmo (29) mit libanesischen Wurzeln sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Arabisch ist ihre Muttersprache, aber Deutsch sprechen sie akzentfrei. Zum Glück sind sie da, um das Gespräch auch für Hala Traboulsee zu übersetzen. Die 40-Jährige ist vor acht Jahren mit ihrer Familie aus Syrien nach Deutschland geflüchtet und hat noch Schwierigkeiten, sich in Deutsch auszudrücken. Intensiv nutzt sie daher die "Bücherei to go": Die Tragetaschen mit teils mehrsprachig verfassten Kinderbüchern hängen im Eingangsbereich der Kita an einem Garderobenständer zur Ausleihe. "Dabei lerne ich auch", sagt sie. Manchmal helfe auch ihre 15-jährige Tochter beim Übersetzen, die durch den Kontakt mit Gleichaltrigen in der Schule die Sprache viel schneller gelernt habe. In Syrien hat Traboulsee Englisch unterrichtet, aber Deutsch findet sie viel schwieriger.
Sprache als Schlüssel zu den Eltern
plusKITA-Fachkraft Weyer sieht die Sprachvielfalt in der Kita positiv: "Die Sprache ist der größte Schatz, den wir in den Familien heben wollen. Wir ermutigen die Eltern, mit ihren Kindern zu lesen und zu sprechen." Gleichzeitig sei Sprache jedoch auch eine Barriere, die es zu überwinden gelte. Vor allem arabischsprachige Mütter hätten sich deshalb anfangs nicht getraut, die Angebote der Kita anzunehmen, sagt Weyer. Aus der Sorge, nichts zu verstehen, fernzubleiben, führe zu Isolation. Wie sehr Sprache ausgrenze, werde auch in Beratungsgesprächen immer wieder deutlich.
"Wir sind hier wie eine Familie"
"Wir bauen Bindung und Vertrauen zu den Familien auf - schon bevor die Kinder in die Kita kommen. Das geschieht zum Beispiel bei Aktionen im Stadtteil, an denen wir uns beteiligen, und am Tag der offenen Tür", berichtet plusKITA-Fachkraft Weyer, "aber auch über einen längeren Zeitraum der Eingewöhnung, während die Kinder mit ihren Eltern noch vor dem eigentlichen Kita-Eintritt einmal in der Woche zum Kennenlernen und Spielen in die Kita kommen." Ziel sei es, nicht nur das Kind, sondern die ganze Familie zu sehen.
Dass das gelingt, bestätigen die Mütter im Elterncafé: "Wir sind hier wie eine Familie. Man kennt sich. Die Erzieherinnen und Erzieher haben immer ein offenes Ohr", sagt Hajar Semmo. Ob es um die Vermittlung von Sprachkursen, um Beratung bei der Arbeitssuche oder bei aufenthaltsrechtlichen Fragen gehe, das Kita-Team setze sich ein. Weyer freut sich über die Anerkennung, die sich ihre Kollegin und plusKITA-Koordinatorin Kristina Morr auch vonseiten der Gesellschaft und Politik wünscht: "Unsere Arbeit wird im Vergleich zum Lehrerberuf immer noch belächelt. Ich wünsche mir, dass gesehen wird, was die pädagogischen Fachkräfte in den Kitas leisten und dass unsere Bildungsarbeit mehr wertgeschätzt wird."
Quelle: Caritas in NRW
Autor/in: Nicola van Bonn